@article{Stender-Petersen_1957, title={Jordanes’ beretning om Goternes udvandring}, volume={7}, url={https://tidsskrift.dk/kuml/article/view/97587}, DOI={10.7146/kuml.v7i7.97587}, abstractNote={<p><strong>Jordanes’ Bericht von der Auswanderung der Goten</strong></p><p>Jordanes, der gotisch-oströmische Verfasser der Getica (6. Jahrhundert), erweiterte sein Werk über das thrakische Balkanvolk der Geten mit einer Darstelling der Geschichte der Goten, deren barbarischen Namen er kraft einer gelehrter mittelalterlichen Tendenz mit dem der klassischen Geten gleichsetzte, obgleich zwischen den beiden Volkern überhaupt keine sprachliche oder ethnische Verbindung vorlag. Da aber die Grenze zwischen den von den Goten und den von den Geten handelnden Partien des Werkes eindeutig klar ist, erlitt die Geschichte der eigentlichen Goten keinen Schaden dadurch.</p><p>An zwei verschiedenen Stellen seines Werkes erzahlte Jordanes von der vorgeschicht­lichen Auswanderung der Goten aus der skandinavischen Halbinsel nach den an der anderen Küste der Ostsee helegenen Gegenden. An der einen Stelle erzählte er, wie de Goten einstmals unter der Führung ihres Königs Berig aus der lnsel Scandza ausgewandert seien, als wäre sie eine Werkstatt von Völkern oder vielmehr ein Mutterschoss der Nationen, und dass sie die Gegend, zu der sie gelangt seien, Gothiscandza genannt hätten, wie sie immer noch heisse. An der anderen Stelle fügt er hinzu, dass sie mit nur drei Schiffen zu der entgegen­gesetzten Küste des Ozeans ... gesegelt kamen. Die Verlässlichkeit dieses Berichtes ist neuer­dings von dem schwedischen Geschichtsforscher Curt Weibull auf schärfste angezweifelt worden.</p><p>So lange Weibulls Kritik nur gegen die altere schwedische Geschichtsforschung gerichtet ist, die seit der Zeit des Bischofs von Växiö Nicolaus Ragvaldi unbegründete Phantasien von dem Alter des schwedischen Reiches und von der Bedeutung der Goten für die Grösse und Macht desselben nährte, kann man sie ohne weiteres akzeptieren. Wenn er aber seine Skepsis auf Ragvaldis Quelle Jordanes erstreckt, muss man sich gegen dieselbe verwahren. Nun überlässt Weibull Jordanes Bericht von der späteren Geschichte der Goten, d. h. von ihrer Auswanderung aus Gothiscandza nach den Küsten des Schwarzen Meeres, den Archäologen und Philologen, die die Auswanderung als geschichtliches Ereignis in die Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Beginn unserer Zeitrechnung verlegen. Er gibt zu, dass Jordanes für diesen Teil seiner Gotengeschichte gewisse Quellen gehabt habe, einerseits die alten Volksepen der Goten, andrerseits den sonst unbekannten Geschichtsschreiber Ablavius. Mit weit grösserer Schärfe aber wendet sich Weibull gegen Jordanes Bericht von der älteren Auswanderung der Goten aus Scandza nach Gothiscandza. Er vermisst bei ihm verlässliche Quellen, findet weder Volksepen noch ältere Geschichtsschreiber als Quellen bei ihm. Das ist aber ein offenbares Missverständnis seitens Weibulls, denn Jordanes betont selbst, dass er die Auswanderung der Goten unter Berig nach der Überlieferung (= memorantur) wiedergebe, und dass das Land, zu dem sie gelangten, von ihnen, wie man erzähle (= <em>ut fertur</em>), Gothiscandza genannt worden sei. Diese mündliche Tradition, auf die er sich beruft, muss er selbst gekannt haben. Nach Weibull aber war dieser Teil seiner Geschichte die Frucht seiner eigenen gelehrten Erfindung, zu der er durch die Schrift De fide des hl. Ambrosius von Milano (zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts) angeregt worden sei: dieser aber setzte auf Grund der biblischen Propheten Jeremias, Jesaias und Hezechiel die Goten mit jenem nördlichen Volk gleich, das unter der Führung eines Gog dereinst in das Land Israel einbrechen werde. Gog iste Gothus est, behaupte Ambrosius mit kühner Überzeugung, und Jordanes soll ihm hierin gefolgt sein.</p><p>Diese Konstruktion steht aber auf schwachen Füssen. Jordanes nennt weder Ambrosius noch die Propheten. Die Gleichsetzung von Gog und Gothus ist ihm völlig fremd. Der Königsname Berig lautet durchaus germanisch, und Weibull äussert sich nicht hierüber. Ebenso unterlässt er es, das Motiv von den drei Schiffen, das in den germanischen Stammsagen bekanntlich eine grosse Rolle spielt, zu behandeln. Kurz, wenn man an die Weibullsche Theorie einer theologischen Spekulation als Grundlage der Jordanesschen Gotengeschichte glauben soll, darf man stärkere und glaubwürdigere Argumente fordern als die, welche Weibull vorzubringen imstande ist.</p><p>2.</p><p>Die von Weibull vernachlässigte Geschichte von der Auswanderung der Goten aus Gothiscandza nach den Schwartzmeerküsten bedarf einer Neuinterpretierung der betreffenden Stellen bei Jordanes. Meine Aufgabe besteht in einer solchen Neudeutung. Sie ist zwar schon vor Jahren von mir in einem anderen Werke vorgenommen worden, aber infolge des rein philologischen Titels dieses Werkes (Slavisch-germanische Lehnwortkunde, 1927) ist meine Deutung sowohl den Archäologen wie den Prähistorikern mehr oder weniger unbekannt geblieben.</p><p>Zunächst einige einleitende Bemerkungen. Wie immer man die Frage der Urheimat der Slaven beurteilen mag, ob man sie nach dem Dnjepr-Raum verlegt oder an den Autochthonismus der Slaven westlich der Weichsel glaubt, so steht es wohl fest, dass der breite Raum zwischen Oder und Weichsel in den letzten Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung zweifellos der Schauplatz umfassender, südwärts gerichteter germanischer Völkerwanderungen gewesen ist. Zuerst kamen die Vandalen, deren Namen mit dem dänischen Landschaftsnamen Vendsyssel verbunden wird, und die sich in den Gebieten westlich der Weichsel bis nach den Sudeten ausbreiteten. Im 3. Jahrhundert n. u. Z. drangen sie in Transsilvanien ein, von wo sie um 400 ihre Wanderung nach dem Westen antraten. Danach kamen die ostgermanischen Burgunden (in den Quellen Burgundiones, Burguntes genannt), die wohl mit dem Inselnamen Bornholm = Borgundar-holm in Zusammenhang gebracht werden müssen und die sich unmittelbar vor Beginn unserer Zeitrechnung ins Gebiet zwischen Oder und Weichsel einkeilten. Die vandalische Kultur der Steinkistengräber und Gesichtsurnen wich jetzt der Kultur der burgundischen Brandgräber. Um die Mitte des 2. Jahrhunderts wanderten sie vermutlich in die früheren vandalischen Gebiete in der Lausitz und Nordschlesien ein, von wo sie Ende des 3. Jahrhunderts gegen Westen ins alemannische Gebiet am oberen Main fortwanderten. Der östlichste Teil der Burgunden aber, der am linken Ufer der Weichsel hauste, geriet um 250 n. u. Z. in kriegerischen Konflikt mit dem gotischen Volk der Gepiden, das sie zwang, die Weichsel hinauf und dann durch Galizien nach dem Schwarzen Meer zu wandern. Ein dritter ostgermanischer Volksstamm, der norwegischer Herkunft gewesen zu sein scheint, waren die Rugier, die Anfang des zweiten Jahrhunderts n. u. Z. im Küstengebiet zwischen Oder und, Weichsel auftraten. Wenn sie Ulme-rugi d. h. wohl Holm-rugier ’Insel­Rugier’, genannt werden, hängt es wahrscheinlich damit zusammen, dass sie den Namen ihres östlichsten, auf den Inseln des Weichseldeltas wohnenden Zweiges übernahmen (vgl. die norwegischen Holmrygir der Skalden). Wie die Burgunden gerieten auch sie in Konflikt mit den von Osten vorrückenden Gepiden, die sie nach Pommern verdrängten. Erst im 4. Jahrhundert scheinen sich die Rugier südwärts durch Schlesien nach Ungarn bewegt zu haben, wo sie im Hunnenreich aufgingen.</p><p>So war das Gebiet zwischen Oder und Weichsel ein geschlossenes Wanderungsgebiet der Vandalen, Burgunden und Rugier, und jedesmal wenn sie ostwärts über die Weichsel vorzudringen versuchten, stiessen sie auf eine entgegengesetzte Bewegung der östlich der unteren Weichsel ansässigen gotischen Gepiden.</p><p>3.</p><p>Im Ostseeküstenraum östlich der Weichsel müssen wir mit einer unabhängigen Völkerbewegung rechnen. Germanische Lehrwörter im Finnischen und Baltischen, teilweise auch im Slavischen, deuten auf einen gewaltigen vorhistorischen Kulturimport über die Ostsee nach den sogenannten baltischen Provinzen. Man muss mit einer schon seit unvordenklichen Zeiten, seit der Bronzezeit und dann in der Eisenzeit stattfindenden vorurgermanisch-urgermanischen Auswanderung zuerst nach dem westlichen Finnland, und dem nörlichen Estland, dann nach dem östlichen Ostseeraum und dessen Hinterland rechnen. Sie ging anfänglich wohl aus dem schwedischen Uppland über die Ålandsinseln, später aus Östergötland und dem hinter ihm liegenden Västergötland über Gotland. Als vorläufig letzte Ausstrahlung dieser ostwärts gerichteten Bewegung müssen wir auch die Auswanderung der Goten betrachten, die nicht - wie bisher angenommen - als östlichste Etappe der obenbeschriebenen Wanderungen, sondern im Gegenteil als die südwestlichste Etappe der nach Osten gehenden Bewegung beurteilt werden muss, und also nicht direkt zum Weichseldelta, sondern vielmehr vorerst nach Estland, Lettland, dem Njemen-Gebiet und den östlichsten Teilen Ostpreussens führte. Hier lag das Gothiscandza des Jordanes.</p><p>Diese Annahme verhilft uns zur rechten Deutung seiner Mitteilungen. Ohne die Weichsel überhaupt zu nennen, sagt Jordanes, dass die Goten von hier aus, also aus Gothiscandza, den Marsch gegen die Holmrugier fortsetzten, die damals an den Küsten der Ostsee wohnten, dass sie hier ihre Kriegslager aufschlugen, sie bekämpften und von ihren Wohnsitzen vertrieben. Die Goten erreichten das Weichseldelta von Osten her. Die drei Schiffe der gotischen Sage symbolisieren augenscheinlich drei Etappen der gotischen Auswanderung. Die erste mag das Riga-Libau-Gebiet, die zweite etwa Samland, und die dritte (die der Gepiden) das Weichseldelta umfasst haben, das den Namen der Gepedoios = GepidaujŌs »Gepideninseln« erhielt. Es ist charakteristisch, dass die von den übrigen Goten getrennten Gepiden an der Weichsel, dem Gesetz dieses wegweisenden Stromes folgend, nach Besiegung der Rugier, dann der Vandalen und schliesslich (um 260 n. u. Z.) der Burgunden unter König Fastida in südwestlicher Richtung nach Dakien abwanderten.</p><p>4.</p><p>Nur wenn man Gothsicandza im östlichen Ostpreussen ansetzt, kann Jordanes Bericht von der Auswanderung nach dem Schwarzen Meer wiederspruchslos verstanden werden.</p><p>Wenn man diesen Bericht analysiert, erweist es sich, dass er aus zwei verschiedenen Sagen besteht. Die eine erzählt von der siegreichen Expedition König Filimers nach den Gestaden des Schwarzen Meeres. Es ist dabei auffallend, dass zwar von einem Fluss (amnis) die Rede ist, niemals aber von der Weichsel als solcher (Vistula). Nachdem Gothiscandza so bevölkert war, dass ein Auszug nötig wurde, gelangte man den Fluss entlang zu einem fruchtbaren Lande, das man Oium nannte, besiegte das fremde Volk der Spalen und eroberte den äussersten Rand von Skythien am Schwarzen Meer. In diesen Bericht ist nun eine überaus dramatische Sage von einer Katastrophe eingeflochten, die das auswandernde Gotenvolk traf, alt es zu einem gewaltigen Sumpfland gelangte, wo man eine Brücke, d. h. wohl eine mit Baumstämmen gepflasterte Strasse, anlegte. Diese Strasse brach zusammen, und Gothiscandza wurde so von Oium getrennt.</p><p>Wenn man traditionell annimmt, dass die Goten aus dem Weichseldelta den Fluss hinauf gewandert seien, würden sie - wie so viel andre Völker vor ihnen - ohne alle Hindernisse auf den Nebenflüssen der Weichsel under den galizischen Flüssen zum Schwarzen Meer gelangt sein. Das Sumpfland aber, von dem Jordanes berichtet, muss das ostpolnisch-west­russische Polesie, das unzuverlässige Gebiet der Rokytno- und Pinsk-Sümpfe, des Pripet und seiner Nebenflüsse, das Gebiet der wälderzerstörenden und flussdämmenden Biber gewesen sein, und zu diesem Gebiet können die Goten nur längs dem Njemen gekommen sein, der sie aus Gothiscandza südwärts geführt hatte.</p><p>Tatsächlich haben die Archäologen nachgewiesen, dass man im Gebiet von Samland und Natangen noch im 5.-7. Jahrhundert Spuren einer gotischen Kultur finden kann, und auch Otto von Friesen hat die Ansicht verfochten, dass das Hreiðgotaland der Hervararsage gerade hier (bis zum 7. Jahrhundert) zu finden ist.</p><p>Der amnis, von dem Jordanes spricht, muss entweder die Memel (Njemen) oder der Dnjepr gewesen sein, und das erste Gotenreich Oium (auf gotisch * Aujōm » Wasserlad, Flussland«) mit seiner magna ubertas regionum, war dann sicher das Land zwischen dem Dnjepr und dem Don, das fruchtbare Gebiet zwischen Kijev, Poltava, Charkov, Voronež, Orel und, Černigov, wo man tatsächlich ein archäologisches Zentrum der gotischen Kultur gefunden zu haben meint. Nach der Besiegung der iranischen Spalen im südrussischen Steppenland stand der Weg offen zum Schwarzen Meere, wo die Goten in der zweiten Hälfte des 2. und in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts ihr berühmtes Reich gründeten.</p><p><em>Ad. Stender-Petersen</em></p>}, number={7}, journal={Kuml}, author={Stender-Petersen, AD.}, year={1957}, month={okt.}, pages={68–80} }