Historisk Tidsskrift, Bind 14. række, 6 (1985) 1

Jurgen Brockstedt (Hrsg.), Frühindustrialisierung in Schleswig-Holstein, anderen norddeutschen Ländern und Danemark. Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins Bd 5. Neumünster, Karl Wachholtz Verlag, 1983. 369 S. 35 DM.

Klaus Greve

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Nachdem in der noch relativ jungen Reihe »Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins« bisherje ein Sammelband zur Geschichte der regionalen Mobilitåt, zur Geschichte des Erziehungs- und Bildungswesens und zur Amerikaauswanderung sowie zum Nationalsozialismus erschienen sind, wendet sich der neueste Band — wiederum in der Form einer Aufsatzsammlung — den Anfången der Industrialisierung zu. Der Band enthålt neben einer Übersichtsdarstellung von J. Brockstedt zur Friihindustrialisierung in Schleswig-Holstein acht Beitråge mit Untersuchungen zu Teilregionen (W. Asmus, Mittelholsteinische Geest; K.-J. Lorenzen-Schmidt, Unterelberaum; H. Zimmermann, Lauenburg; H. Fange/,Haderslev) oder Teilaspekten der Entwicklung in Schleswig- Holstein. (L. Henningsen, Eisenindustrie in Nordschleswig; G. Vaagt, Eisenindustrie in Flensburg; P. Wulf, Carlshiitte bei Rendsburg - 1827 gegriindeter großter metallverarbeitender Betrieb der Herzogtiimer). Außerdem umfaßt der Band noch je eine Studie zur Friihindustrialisierung im Herzogtum Oldenburg (C. Reinders und E. Hinrichs), im Furstentum Lippe (P. Steinbach) und im »eigentlichen« Konigreich Danemark (O. Hornby).

Die Auswahl dieser Lander zeigt die besondere Thematik des Sammelbandes: Er behandelt die Anfange der Industrialisierung im regionalen Kontext von Gebieten, deren Wirtschaftsstruktur bis in unser Jahrhundert vom Agrarsektor dominiert wurde. Den regionalen Kontext erfassen die Autoren dabei auf drei untereinander verkniipften Maßstabsebenen. Die Beitråge untersuchen - bei durchaus unterschiedlicher Schwerpunktsetzung: (1) Die Verflechtungen zwischender

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schenderfruhindustriellen Gewerbeentwicklung und anderen Aspekten der Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung innerhalb der Untersuchungsregion, (2) die regionale Differenzierung des fruhindustriellen Entwicklungsprozesses innerhalb der Untersuchungsregion und (3) die Unterschiede zwischen den fruhindustriellen Wandlungsverlåufen in der Untersuchungsregion im Vergleich zu anderen Regionen.

Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen eine Reihe von Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede in den Entwicklungsverlåufen in den vier Låndern: Industrialisierung und Friihindustrialisierung setzten in allen vier Gebieten vergleichsweise spat ein. Die Beitråge zur Entwicklung in den Herzogtumern, in Danemark und in Oldenburg betrachten die Zeit zwischen 1830/40-1870 Phase der Friihindustrialisierung. In Lippe kam es erst wåhrend des Kaiserreichs zu åhnlichen Tendenzen. Die råumliche Verteilung der fruhindustriellen Gewerbebetriebe beschrånkte sich sowohl in Schleswig-Holstein, wie in Danemark und in Oldenburg auf wenige regionale Schwerpunkte. Auswirkungen der Industrialisierung lassen sich aber in allen Teilregionen der untersuchten Lander nachweisen, auch in solehen Gebieten, in denen keine Industriebetriebe entstanden: Alle vier Lander erhielten »Zulieferfunktionen« fur die Industrialisierung anderer Regionen. Schleswig-Holstein, Danemark und Oldenburg versorgten die friihen Industriezentren Mitteleuropas mit Agrarprodukten. Im Fall von Lippe iibernahm der »Export« von saisonal beschåftigten Wanderzieglern eine åhnliche Funktion. In Schleswig-Holstein und Danemark konnte sich eine eigenståndige Industrialisierung auf der Basis des Agrarexportes und der daraus resultierenden Nachfrage nach Industriegiitern entwickeln. Die Herzogtiimer erreichten dabei schon vor 1867 einen betråchtlichen Grad der Selbstversorgung mit Industrieprodukten.

Anders die Entwicklung in Oldenburg: Hier kam der Binnennachfrage nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Obwohl in einigen Regionen hausindustrielle Traditionen und Gewerbeverdichtungen (scheinbar) gunstige Startbedingungen fur die Industrialisierung bereithielten, war hier - mit Ausnahme des Rohstoffstandorts Augustfehn - die erfolgreiche Industrialisierung von auswårtigen (Bremer) Interessen und Investitionen abhångig. Auch die Geschichte der Industrialisierung in Lippe verlief entlang eines anderen Entwicklungspfades. Seit Ende des 18. Jahrhunderts verfugte Lippe iiber ein protoindustnelles Leinengewerbe, das jedoch um die Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend unterging (Deindustrialisierung). Die freiwerdenden Arbeitskråfte und deren Nachkommen fanden als saisonale Wanderziegler Beschåftigung. Erst sehr spat, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, setzte hier, nicht zuletzt auf der Basis dieser »wandernden Industrie«, ein vergleichsweise zogernder Industrialisierungsprozefi

Der Sammelband behandelt interessante, bislang nur wenig beachtete Aspekte der Friihindustrialisierung. Er enthålt eine ganze Reihe von neuen Erkenntnissen zur schleswig-holsteinischen Industrialisierungsgeschichte. Zugleich leistet er einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der regionalen Verschiedenartigkeit und råumlichen Differenzierung des Industrialisierungsprozesses, eines Forschungsfelds, das in den letzten Jahren verstårkt in das Blickfeld des wissenschaftlichen Interesses geriickt ist.